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Titel
Verflochtene Nationsbildung:. Die neue Türkei und der Völkerbund 1918–38


Autor(en)
Liebisch-Gümüş, Carolin
Reihe
Studien zur Internationalen Geschichte 48
Erschienen
Anzahl Seiten
IX, 445 S.
Preis
€ 69,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Berna Pekesen, Historisches Institut & Institut für Turkistik, Universität Duisburg-Essen

Zahlreiche Untersuchungen haben sich mit der Aufteilung des besiegten Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg im Vertrag von Sèvres 1920 und der erfolgreichen Revision dieses Vertrages durch die türkische Nationalbewegung im Friedensvertrag von Lausanne 1923 auseinandergesetzt. Viele dieser Studien widmeten sich diesen Aspekten aus diplomatiegeschichtlicher oder außenpolitischer Perspektive, insbesondere im Bereich des Minderheitenschutzes und den außenpolitischen Krisenfragen (Meerengen-, Mossul-, Hatayfrage, britische und französische Mandatsverwaltung in den arabischen Regionen usw.).1 Eine systematische Untersuchung zum Verhältnis der „Neuen Türkei“ unter Mustafa Kemal Atatürk zum Völkerbund fehlte bislang. Diese Forschungslücke wird durch die Dissertation von Carolin Liebisch-Gümüş, die aus dem Heidelberger Exzellencluster „Asia and Europe in a Global Context“ hervorgegangen ist, geschlossen. Die Arbeit ist ein gelungenes Beispiel für den Paradigmenwechsel im Bereich der Völkerbundforschung, die sich nicht mehr mit den wohlbekannten Schwächen der Genfer Weltorganisation, vornehmlich auf dem Gebiet der mehr oder weniger gescheiterten Minderheitenschutzverträge, begnügt, sondern Themenfelder wie internationale Kooperationen und Entwicklungshilfe im Bereich der Gesundheits-, Seuchen- und Drogenbekämpfung, sozialpolitische Maßnahmen gegen Opium-, Frauen- und Kinderhandel wie auch Expertennetzwerke, Wissensproduktion und Wissenstransfer unter der Ägide des Völkerbunds ins Blickfeld rückt.

Aus einer global-, transfer- und rezeptionsgeschichtlichen Perspektive untersucht Liebisch-Gümüş die „Verflechtungsmomente“ der Neuen Türkei unter Atatürk zum Völkerbund in der Zwischenkriegszeit (1918–1938). Konkret analysiert sie zwei miteinander verflochtene Ordnungs- und Transformationsprozesse und ihre Akteure – den Völkerbund einerseits und die Republik Türkei andererseits. Sie fragt nach der ordnungsbildenden Rolle des Völkerbunds bei der Transformation des Osmanischen Reiches zur Neuen Türkei, der Wahrnehmung und Rezeption des Völkerbundes durch die türkischen Akteure, der türkischen Völkerbundpolitik und den wechselseitigen Ausformungen und Vorstellungen von Nationalismus und Internationalismus. Ein Schwerpunkt liegt in den miteinander verflochtenen Prozessen der nationalen Identitätskonstruktion, modernisierungsorientierten Staatsbildung und Bevölkerungspolitik in der Türkei.

Das Buch ist in drei etwa gleich große, chronologisch geordnete Teile gegliedert: I. Transformation und Kontinuität 1919/20, II. Deutungshoheit 1923, und III. Konsolidierung und Integration 1923–38. Im ersten Teil zeichnet Liebisch-Gümüş die Geschichte der osmanischen Internationalisierungserfahrungen vom Krimkrieg bis zum Ersten Weltkrieg nach und beleuchtet, wie sie sich in der Orientalischen Frage widerspiegelten. Diese frühe Verflechtungsgeschichte des osmanischen Staates mit internationalen Organisationen war in hohem Maße geprägt von Machtasymmetrien, die eine „schleichende Entsouveränisierung und imperialistische Infiltration“ ermöglichten, die den Ersten Weltkrieg überdauerten und die künftigen Akteure der türkischen Nationsbildung zutiefst prägten. „Der Pariser Moment 1919“ war die finale Phase der Lösung der Orientalischen Frage. Auf der Friedenskonferenz von Sèvres wurde schließlich die Desintegration des Osmanischen Reiches und die Übertragung der Hoheitsrechte an internationale Gremien und Mandatsmächte unter Völkerbundaufsicht verhandelt und legitimiert. Die zentrale Grundannahme der Arbeit ist selbsterklärend und in der Forschung unstrittig: Die Vorstellung und Ausformung von Nationalismus und Internationalismus seien global verflochtene, sich wechselseitig bedingende Ordnungsprozesse gewesen. Am Beispiel der Pariser Nachkriegsordnung analysiert die Autorin die scheinbar widersprüchliche Mischung aus kolonialen Kontinuitäten und der liberalen Idee einer internationalen Kooperation politisch selbstbestimmter Nationen. Die Pariser Ordnung habe das Wilsonsche Recht auf politische Selbstbestimmung eingeschränkt und die Akzeptanz der nationalen Souveränität an den „Zivilisationsgrad“ der betreffenden Gemeinwesen gekoppelt. Die „globale Verflochtenheit“ bzw. enge Verwandtschaft zwischen dem eurozentrischen Zivilisationsverständnis des Völkerbundes (sowie der internationalen Nachkriegsordnung) und dem türkischen (kemalistischen) „Zivilisationismus“, so der Ausdruck der Autorin, wird kapitelübergreifend immer wieder herausgestellt. Die Autorin beschreibt den „Zivilisationismus“ als außenpolitisches Streben nach Teilhabe am Völkerbund und Anschluss an die europäische Zivilisation sowie als einen dauerhaften zivilisatorischen Wettbewerb mit den griechischen und armenischen Kontrahenten auf der internationalen Bühne. Nach innen habe er den teilweise gewaltsamen Homogenisierungsdruck auf muslimisch-kurdische und andere Bevölkerungsgruppen legitimiert. Dieser innenpolitischen Wirkung des außenpolitischen Handelns folgend, bietet Liebisch-Gümüş auch einen gut systematisierten Überblick über die Aktivitäten und das Gedankengut der türkischen nationalen Akteure in der unmittelbaren Nachkriegszeit im Land selbst.

Im zweiten Teil der Untersuchung („Deutungshoheit 1923“) werden die Aktivitäten der türkischen Akteure auf den „Gegenbühnen der internationalen Ordnung“, darunter der Konferenz der Sozialistischen Internationale in Bern 1919, dem Kominternkongress in Baku 1920 sowie in panislamischen und panturanistischen Netzwerken untersucht. Sie alle, so resümiert die Autorin, galten als strategische Allianzen im Kampf um die nationale Souveränität. Eine wirkliche Alternative zum Internationalismus des Völkerbundes konnten sie aber nicht werden. Das lag unter anderem an der inneren und äußeren Konsolidierung der kemalistischen Regierung nach 1923. Die kemalistischen Ansichten über Völkerbund und Internationalismus setzten sich gegen alternierende Vorstellungen durch. Deren Ideen führt die Autorin im dritten Teil der Arbeit („Konsolidierung und Integration 1923–1938“) auf Ziya Gökalp zurück, dem (Mit-)Begründer des türkischen Nationalismus. Der ideologische Kompass zeigte in die Richtung „europäische Zivilisation“ und internationale Ordnung des Westens, die, folgt man der Autorin, im gökalpisch-kemalistischen Selbstverständnis eng miteinander verbunden waren.

In den folgenden Kapiteln führt die Autorin die gegenseitigen Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen der Türkei und dem Völkerbund sowie globalgeschichtliche Bezüge der türkischen Völkerbundrezeption und des Internationalismus immer wieder vor Augen. Dies geschieht hinsichtlich des Nationalstaatsprinzips und des eurozentrischen Zivilisationsdiskurses. Unter dieser Perspektive beschreibt die Autorin, die „türkische Nationsbildung nach 1918 als ein(en) mit dem Völkerbundnationalismus grundlegend verflochtene(n) Ordnungsprozess“. Die Autorin hebt diese diskursive Verflechtung hervor, betont aber zugleich, dass die kemalistische Nationsbildung nicht bloß als „Reaktion auf den Völkerbundinternationalismus“ zu deuten sei (S. 402f.).

Obwohl die kemalistische Türkei sich als „Verteidiger des wahren Völkerbundideals im wilsonschen Sinne“ und mithin als Teil der „zivilisierten Staatengemeinschaft“ verstand, war sie vorerst nicht gewillt, dem Völkerbund beizutreten. Ausschlaggebend hierfür war, wie im dritten Teil des Buches beschrieben, die Sorge vor internationaler Einmischung und Beschneidung nationaler Souveränität durch den Völkerbund. Zugleich hinderte die grundsätzliche Skepsis gegenüber dem Völkerbund die Türkei nicht daran, punktuell und informell mit den Völkerbundinstanzen insbesondere im Bereich der ILO, der Gesundheits-, Seuchen- und Drogenbekämpfung (nicht immer konfliktfrei) und in der Abrüstungszusammenarbeit zu kooperieren. Erst in der Krise des Völkerbundes 1932, als Mitglieder dem Völkerbund reihenweise den Rücken kehrten, trat die Türkei der Weltorganisation bei. Sie fühlte sich nun souverän und unabhängig genug – die „Infiltrationsgefahr“ schien verbannt (S. 397). In diesem Kapitel knüpft Liebisch-Gümüş an einige Themen der neuen Völkerbundforschung an, das mit informativen Details und manchen neuen „Verflechtungsmomenten“ aufwartet.

Die problematischen Folgen der Verschränkung von Innen- und Völkerbundpolitik werden besonders am Schluss der Untersuchung herausgearbeitet. Im Kapitel über die „Türkisierung im Rahmen der Völkerbundordnung“ beleuchtet die Autorin wichtige Episoden der türkischen Homogenisierungspolitik. Der griechisch-türkische Bevölkerungsaustausch, festgeschrieben im Vertrag von Lausanne 1923, wurde mit Hilfe des Völkerbundes durchgeführt.2 Die starke Eingrenzung des Minderheitenschutzes in der Türkei, die Entrechtung, Ausweisung und Vertreibungen von Griechen, Armeniern und Juden sowie das Massaker an den aufständischen Kurden in Dersim 1937/38 stießen beim Völkerbund kaum auf Widerstand. Dieses Kapitel der türkischen Geschichte ist gut erforscht. Dem Resümee der Autorin, die den Völkerbund als Katalysator der fortgesetzten türkisch-nationalen Homogenisierung Anatoliens ausmacht, ist uneingeschränkt zuzustimmen.

Liebisch-Gümüş ist eine solide recherchierte und erhellende Studie auf der Basis von Genfer und türkischen Archivquellen gelungen. Vieles in diesem Buch hat man woanders schon gelesen. Gleichwohl ist es das Verdienst der Autorin, die transfer- und rezeptionsgeschichtlichen Ansätze konsequent anzuwenden und sie zu einem kohärenten ideen- und beziehungsgeschichtlichen Bild zu bündeln. Die Arbeit ist ein gutes Beispiel dafür, dass globalisierungsgeschichtliche Ansätze dann gelingen können, wenn sie sich mit Regionalexpertise verbinden. Der Titel des Buches führt aber in die Irre, die Autorin selbst stellt klar, dass hier nicht die „Nationsbildung“ im engeren Sinn gemeint sei, sondern die Schaffung des (türkischen) Nationalstaats.

Anmerkungen:
1 Zu einzelnen Aspekten siehe z.B. Mehmet Gönlübol, Turkish Participation in the United Nations 1945–1954, Ankara 1963; Harry N. Howard, The Partition of Turkey. A Diplomatic History 1913–1923, New York 1966; Paul C. Helmreich, From Paris to Sèvres. The Partition of the Ottoman Empire at the Peace Conference of 1919–1920, Ohio 1974; David Fromkin, A Peace to End all Peace. The Fall of Ottoman Empire and the Creation of the Modern Middle East, New York 1989; Ryan Gingeras, Fall of the Sultanate. The Great War and the End of the Ottoman Empire, 1908–1922, Oxford 2016.
2 Für eine neue Studie zu internationalen bzw. Völkerbunddebatten auf dem Weg zum griechisch-türkischen Bevölkerungstransfer siehe Arno Barth, „Störfaktoren entfernen?“. Minderheitenpolitik als Risikoabwägung im Langen Ersten Weltkrieg, Frankfurt am Main 2021.

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